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Jakob Augstein

S.P.O.N. - Im Zweifel links Kapitalismus? Echt?

Brexit, AfD, Trump: alle Welt rätselt über den Aufstieg der Populisten. Aber so kompliziert ist es nicht: im Westen erheben sich die Betrogenen. Und wir müssen uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden.

Wenige Tage nach dem Votum der Briten, der Europäischen Union den Rücken zu kehren, gab der britische Finanzminister bekannt, es müssten jetzt wohl die Steuern erhöht werden. Also die der Bürger. Man muss jetzt, sagte er, "dem Land und der Welt zeigen, dass die Regierung in der Lage ist, im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten zu handeln." Kurz darauf gab er bekannt, dass er die Steuern senken wolle. Also die der Unternehmen. Es gehe dabei um die Wettbewerbsfähigkeit der britischen Wirtschaft, sagte er.

Da können Petry, Le Pen und alle Populisten noch so laut die Islamisierung des Abendlandes beschwören. Muslime, Migration, Minarette - nichts kann der liberalen Demokratie in Europa so gefährlich werden wie die Erkenntnis: Sie ist gar nicht liberal, sondern neoliberal. Der Unterschied hat es in sich. Er entscheidet darüber, ob diese Demokratie überleben wird.

Die Chancen stehen nicht gut. Aus der neoliberalen Ideologie erwachsen Krisen, denen die Regierungen mit den Instrumenten derselben Ideologie begegnen: noch mehr Privatisierungen, noch niedrigere Unternehmenssteuern, noch weniger Arbeitnehmerschutz. Die Äußerungen des britischen Finanzministers werden die Wut der Menschen auf ein ungerechtes System und den Zynismus der Eliten nicht mildern.

Es ist eine Wut, für die inzwischen Verständnis von unerwarteter Seite kommt. Der britische "Economist" schreibt: "Komplizierte Finanzinstrumente haben sich an allen Kontrollinstranzen vorbeigeschummelt und die Weltwirtschaft vor die Wand gefahren. Am Ende standen steuerfinanzierte Rettungsmaßnahmen für die Banken und staatliche Kürzungen. (...) Viele Fabrikarbeiter, die ihre Arbeit verloren haben, waren nicht in der Lage, einen anständig bezahlten Ersatz zu finden."

Der neoliberale Kapitalismus ist das Problem? Echt?

Jede Gesellschaft ist geronnene Ungerechtigkeit. Die Beschäftigten fürchten die Entscheidungen ihrer Vorgesetzten - aber die Vorgesetzten fürchten nicht die Entscheidungen der Beschäftigten. Das ist die Definition von Abhängigkeit. Dieses Missverhältnis muss im sozialen, demokratischen Rechtsstaat der Ausgangspunkt aller Politik sein. Der Neoliberalismus zerstört diesen Zusammenhang.

Revolution aus Angst statt aus Vernunft?

Der Philosoph Byung-Chul Han hat geschrieben: "Der Neoliberalismus formt aus dem unterdrückten Arbeiter einen freien Unternehmer, einen Unternehmer seiner selbst. Jeder ist heute ein selbstausbeutender Arbeiter seines eigenen Unternehmers." Han sagt, wer heute scheitere, der beschuldige sich selbst und schäme sich. Diese Scham sei der Grund, dass keine Revolution mehr möglich sei, trotz der immer größer werdenden Schere zwischen Reich und Arm.

Aber eine Revolution ist möglich. Sie hat längst begonnen - sie kommt von rechts. Die Rechten sind dabei, die kulturelle Hegemonie zu erringen. Sie verschieben die Grenzen des Sagbaren und des Machbaren. Es ist zwar kriminell, Ausländerwohnheime anzuzünden - als politische Strategie aber erfolgreich. Und es ist zwar unsinnig, die Europäische Union verlassen zu wollen - als politische Strategie aber erfolgreich.

Und es ist zwar unredlich, Lügen zu verbreiten - als politische Strategie aber erfolgreich.

Die Linken sind dafür zu friedlich, zu nett und zu vernünftig. Sahra Wagenknecht sieht zwar aus, als hätte sich Rosa Luxemburg auf der Flucht vor der Polizei eine Nacht bei Peek & Cloppenburg versteckt. Aber ihr revolutionäres Potenzial passt in ein Make-up-Döschen. Und ihr Mann Oskar zettelt höchstens noch im Altersheim eine Revolution an, aber auch nur, wenn der Brokkoli zu fest gekocht ist.

Die Linken machen niemandem mehr Angst. Es ist die Angst vor den Rechten, die von nun an die Politik bestimmt. Wir werden erleben, dass sich ein politisches System nicht aus Vernunft ändert, sondern aus Furcht. Der Revolutionär Bucharin soll gesagt haben: "Die Demokratie ist die Staatsform des Bürgertums, wenn es keine Angst hat. Der Faschismus, wenn es Angst hat."

In dieser Woche...

...berichtet "der Freitag"  unter anderem über folgende Themen:

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Foto: SPIEGEL ONLINE